Festivalimpressionen 2016 - Gesprächsrunde zum Thema „Patriarchatskritische Aktivistinnen aus islamischen Gesellschaften: Was tun?“


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Einstimmung für das Podiumsgespräch: der Dokumentarfilm "Der Junfrauenwahn“

 

  Regisseurin Güner Balci porträtiert in ihrem Film „Der Jungfrauenwahn“ vier ProtagonistInnen, die alle dafür kämpfen mussten, frei zu leben: Die kurdische Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seran Ates überlebte nur knapp ein Attentat fundamentalistischer Muslime in ihrer Beratungsstelle für türkische Frauen; der israelisch-arabische Psychologe Ahmad Mansour - selbst als Jugendlicher in einer islamistischen Gruppe aktiv - leistet im Anti-Gewalt-Projekt HEROES mit Jungen Präventionsarbeit gegen „Unterdrückung im Namen der Ehre“; Zana Ramadani aus Mazedonien flüchtete vor familiärer Gewalt in ein Frauenhaus und engagierte sich dann eine zeitlang bei FEMEN; die Studentin Arife Yalniz wohnt an einem der Familie unbekannten Ort und meint, niemanden gehe an, ob sie noch Jungfrau ist. Sie alle wehren sich gegen die Beschränkung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten durch frauenverachtende Traditionen.
 

Güner Balci erzählt davon, wie sie ihren ProtagonistInnen begegnet ist, von ihrem Umfeld, von den Dreharbeiten, und wie der Film aufgenommen wurde. Protagonistin Zana Ramadani berichtet von ihrer Erfahrung mit frauenverachtenden Traditionen, von ihrem Engagement dagegen, darunter auch ihre Tätigkeiten bei FEMEN.

 
 

Das Podiumsgespräch

"Die Teilnehmerinnen erzählten zu Fragen nach den jeweiligen Biographien – wie sind sie zu einer so außerhalb des Mainstreams in ihren Gesellschaften stehenden und extrem angefeindeten Analyse und Haltung gekommen und welche theoretischen Schlüsse haben sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung gezogen? Und zu ihrer politischen Praxis, den Strategien, mit denen sie versucht haben, aufklärerisch gegen Frauenfeindlichkeit wirksam zu werden. Und was weiterhin zu tun nötig ist.“

  Güner Balci, Journalistin, Autorin, Regisseurin, „Gründungsmitglied des Muslimischen Forums Deutschland“ berichtete aus ihrer Kinheit in einer türkischen Migrantenfamilie, der ihre Bildung und geistige Entfaltung sehr wichtig war, und machte beeindruckende Statements:

In meiner journalistischen Arbeit zu Islamismus und türkischem Faschismus in Deutschland muss ich mit Extremanfeindung kämpfen... 10 Jahre Islamkonferenz mit reaktionären Verbänden hat keine einzige Idee zum Umgang mit dem erstarkenden Islamismus unter Jugendlichen hervorgebracht... Unter den muslimischen Theologen gibt es unglaublich fortschrittliche Denker, sie haben aber keine Wirkungsmacht.

 
Naila Chikhi, algerische Migrantin, Referentin für Flucht und Frauenrechte von TERRE DES FEMMES und Koordinatorin des Projekts CONNECT für geflüchtete Frauen, hinterfragt:

Weshalb sollten wir gerade in Deutschland frauenverachtendes Verhalten und Strukturen tolerieren, wenn Frauen in islamischen Ländern dagegen kämpfen?... Alles, was wir hier Frauen betreffend entscheiden, hat Einfluss auf den Kampf der Frauen in den Herkunftsländern. ... Geflüchtete Frauen sind nicht nur Opfer, sie sind stark und sie brauchen Empowerment.


Saida Keller-Messahli, tunesische Migrantin, Präsidentin des Vereins „Forum für einen fortschrittlichen Islam“, pointierteste Islamismus-Kritikerin der Schweiz:

In den 70er Jahren hatten die meisten arabischen Länder laizistische Regime, die Frauen waren unverschleiert.... Der Islamismus ist die Krankheit des Islam, „Islamophobie“ ein Maulkorb den uns Islamisten verpassen, damit wir keine Kritik an unserer Religion ausüben und die Linke hat Beißhemmung mit den Islamisten... Wir müssen hinterfragen: woher kommt das Geld, um hier den saudischen Wahabismus und in jedem Land der Welt seine Moscheen zu etablieren? ... Die "Freiburger Erklärung der laizistischen Muslime“ steht für absolute Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Respekt aller Minderheiten.

  Zana Ramadani, Frauenrechtsaktivistin, Ex-FEMEN-Vorsitzende, CDU-Mitglied, Protagonistin in „Der Jungfrauenwahn“, erzählt über das Spannungsverhältnis in ihrer albanisch-mazedonischen Familie mit einem liberalen Vater und einer streng islamisch religiösen Mutter:

Die Frauen haben eine große Verantwortung dafür, ob ihre Söhne oder Töchter frauenverachtende Rollenbilder übernehmen... Der Islam wurde mir mit Schlägen eingetrichtert, freiwillig war daran nichts... Es gibt eine Frauenbewegung in den islamischen Ländern – im Iran z.B. rasieren sich Frauen im Protest gegen Kopftuchzwang die Haare ab. Sie riskieren oft dabei ihr Leben.

  Das offensichtlich faszinierte Publikum wollte auch nach über zwei Stunden intensiver Gespräche noch weiter hören und diskutieren.
 
  Die Teilnehmerinnen des Podiumsgesprächs führen noch lange angeregte Gespräche mit dem Publikum im Kino-Foyer
 
 
 

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Fotos: Alexander Gonschior